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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Höhener, Lukas
Titel: 4. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung
Veranstalter: Philipp Eigenmann, Mirjam Staub, Thomas Ruoss, Lea Zehnder, Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich.
Datum, Ort: 9. – 10. April 2015, Zürich
Erscheinungsjahr: 05/2015
zusätzl. Angaben zum Autor: Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich
Text des Beitrages:

Erneut nutzten Doktorierende mit bildungshistorischem Forschungsgegenstand die Gelegenheit, an der Zürcher Werkstatt ihre Dissertationsprojekte zu präsentieren. Zwölf Referierende aus dem deutschen Sprachraum und nochmal so viele Diskutantinnen und Diskutanten beteiligten sich rege an den Diskussionen und lieferten für die Weiterarbeit an den Projekten konstruktive Hinweise. Im Fokus der Beiträge und dem jeweils anschliessenden Austausch standen die gegenseitige Bezugnahme von Fragestellung, theoretisch- methodischer Prämissen und der Quellenlage. So sind Stolpersteine, ungeklärte Probleme und Umwege ebenso aufgeworfen worden, wie Lösungsansätze und Hinweise angeboten wurden. Eine zusätzliche Bereicherung war durch die Begleitung von Frau Regina Wecker (Basel) gegeben.

Als erste referierte NATHALIE DAHN (Lausanne) über ihre laufende Dissertation zur staatsbürgerlichen Erziehung in den Kantonen Waadt, Freiburg und Solothurn im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Ausgehend von normativen, Lehrinhalte beschreibenden Quellen untersucht sie darüber hinaus Korrespondenzen oder Presseartikel, immer unter einem akteurzentrierten Fokus. Dieses Wechselspiel von makro- und mikroanalytischen Perspektiven erlaubt Dahn nach Aspekten von Macht, Beziehungen und Strategien innerhalb von Akteurskonstellationen zu Fragen und beispielsweise soziale Differenzierungen in der Erziehung der Bürger im Kanton Waadt unter die Lupe zu nehmen.

MIRJAM STAUB (Zürich) untersucht die Entstehungsgeschichte von Kinderhorten für Schulkinder in Zürich, St.Gallen und Winterthur im Schnittfeld von Sozial- und Bildungspolitik ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch sie verfolgt einen akteurspezifischen Ansatz und fragt in ihrem Projekt nach den Beteiligten und deren Weltanschauungen und Überzeugungen im Kontext der Gründungen dieser damals neuen Institutionen. Die herauszuarbeitenden Interessen der Eltern und deren Einfluss auf die Ausgestaltung der Kinderhorte ergänzen die Akteurperspektive massgeblich, wobei Staub hierzu die hauptsächlich institutionenseitige Quellenlage zur Diskussion stellte.

KARIN BÜCHEL (Zürich) forscht zu bildungspolitischen Reformdynamiken der dualen Berufsbildung im Kanton Luzern. Ihr umfangreiches Quellenmaterial, bestehend unter anderem aus Zeitungsartikeln, Sitzungsprotokollen und Schulblättern, wertet sie diskursanalytisch und anhand der qualitativen Inhaltsanalyse aus mit dem Etappenziel, Argumente der involvierten Akteure zu vier ausgewählten Berufsbranchen herauszuarbeiten. Dahinter steht die These, wonach sich innerhalb des Kantons deutliche Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Bereichen abzeichnen würden. In der Folgediskussion überwogen die Hinweise zur polymorphen Komposition der kantonalen Teilgebiete, weshalb die Bipolaritäten liberal-konservativ und städtisch-ländlich aufgegeben und eher mit einem kategorialen Modell abgebildet werden sollten.

Ein ebenfalls diskursanalytisches Vorgehen wählte LISE VAN DER EYK (Freiburg i.Br.) für ihr Dissertationsprojekt über die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft bezüglich der Rolle des Staates in Bildungsfragen. Im Zentrum ihrer Analyse stehen die politischen Debatten in Preussen, Frankreich und den Niederlanden im 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts, womit sie einen Länder- und Diskursvergleich anstrebt und nach dem Prinzip der Unterrichtsfreiheit und dem Verständnis von nationaler Erziehung fragt. Die vorgesehene Analyse des Quellenbestandes aus dem Kontext legislativer Prozesse veranlasste Van der Eyk, elaborierte methodische Herausforderungen zur angeregten Diskussion ins Plenum zu geben.

Am Beispiel der Einführung der „Italienerklassen“ in der Stadt Zürich vermittelte THOMAS RUOSS (Zürich) einen Einblick in seine laufende Dissertation zu Praktiken, Intentionen und Folgen der Statistik in der Schulverwaltung. Eine theoretische Verortung sieht er im Ansatz einer Praxeologie der Verwaltung oder in Foucaults „Dispositiv“ als strategische Richtung. Insofern arbeitete Ruoss nach den Kontexten von Schulverwaltung und Datenerhebung migrationspolitische und schulpädagogische Dispositive anschaulich heraus und zeigte exemplarische Erscheinungsformen von Statistik: Als ein politisches, staatsbeschreibendes, strategisches oder legitimierendes Instrument.

BARBARA CALUORI (Luxemburg) präsentierte ihr Projekt zur Rezeption zweier dominanter Modelle von Unterrichtsmethoden aus den Anfängen des 19. Jahrhunderts. Anhand der Gegenüberstellung der Methode von Heinrich Pestalozzi und der Bell-Lancester-Methode forscht Caluori nach Zusammenhängen von kulturellen Kontexten, Rezeptionsverhalten und Methodenpräferenzen. Zur qualitativen Analyse ihres breiten Quellenkorpus entwarf sie aus der Sekundärliteratur Kategorien und stellte ebendiese zur Diskussion, wobei ein ebenso angeregter Austausch über die Unterrichtsmodelle und ihre mögliche Funktion als „Label“ und damit verknüpften Vorstellungen geführt wurde.

Mit der Frage nach dem Geschichtsverständnis in Schulbüchern unter dem Fokus fachdidaktischer Vermittlungs- und Aneignungsformen eröffnete HELENE MÜHLESTEIN (Zürich) den zweiten Tag der Werkstatt. Im Zeitraum von 1870 bis 1980 untersucht sie einerseits mit qualitativ inhaltsanalytischem Vorgehen Paratexte in den Schulbüchern oder Lehrerzeitschriften als Grundlage für explizite Implikationen, andererseits analysiert sie exemplarisch anhand zweier Themen die Lerninhalte nach Hinweisen auf didaktisch implizite Implikationen. Sie beleuchtet dabei. Mühlestein beabsichtigt damit Aussagen treffen zu können über Konstanz und Wandel von Vermittlungsprozessen in Geschichtslehrmitteln.

JOHANNA BETHGE (Heidelberg) interessiert sich für den Zusammenhang zwischen Produkt und Produktionsprozess von neu zu schreibenden Schulgeschichtsbüchern in Westdeutschland nach 1945 und unterlässt es nicht, auch die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse zu betrachten. Dazu greift sie auf noch ungenutzte Quellenbestände der amerikanischen Besatzungsbehörden wie auch Bestände des Kultusministeriums zurück und verhandelt in akteurzentrierter Perspektive die Verbreitung von „demokratischem Wissen“ mittels einer vermeintlich „demokratischen“ Vorgehensweise in der Nachkriegszeit. Dabei habe der Wissenstransformationsprozess eine Demokratisierung nicht bei den Rezipienten, sondern bei den Produzenten ausgelöst, so die These Bethges.

NADINE PIETZKO (Zürich) setzt sich in ihrer Dissertation mit der Schulbuchlandschaft in der alten Eidgenossenschaft auseinander und verwies deutlich auf die Schwierigkeiten, mit heutigem Verständnis das „Schulbuch“ um 1800 erfassen zu wollen. Die Antwortschriften der Stapfer-Enquête von 1799 dienen ihr als Ausgangslage, um alle dort erwähnten, gedruckten und geschriebenen Medien in ein eigens entwickeltes Kategoriensystem einzuordnen und damit auf quantitativer Basis die Frage nach den verwendeten Lehrmitteln beantworten zu können. Zudem geht Pietzko der Frage nach, wie Medien den Weg in den Unterricht finden und zieht hierzu weitere Quellen etwa von Buchverkäufern und -Händlern bei.

MICHAEL ANNEGARN (Braunschweig) stellte sein Forschungsprojekt zur Einführung des Lehrfilms in der Zwischenkriegszeit zur Diskussion. Auf der einen Seite beabsichtigt er einen synchronen und diachronen Vergleich von Lehrfilmen mit Schulbüchern bezüglich der Kolonialthematik. Dabei verfolgt er die These, wonach sich die beiden Medien wohl hinsichtlich der Repräsentationsformen, nicht aber der transportierten Normen unterscheiden würden. Auf der anderen Seite interessiert Annegarn die bei der Einführung von Lehrfilmen geführte Debatte zwischen Akteuren der Befürworter und Gegner, wobei er hierfür auf allgemein- und reformpädagogische Zeitschriften zurückgreift.

Einige Klippen der Diskursanalyse thematisierte SARINA HOFF (Mainz) anlässlich ihres Dissertationsprojektes zu körperlichen Strafen in Schulen. Sie forscht nach den Ursachen für das Verbot körperlicher Strafen in den 1970er-Jahren in Westdeutschland und dem damit verbundenen Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen. Zu diesem Zweck nimmt sie den Zeitraum von 1870 - 1974 in den Blick und wirft die Frage auf, welche Quellen einbezogen oder ausgeschlossen werden sollen, ohne für den Zusammenhang Wesentliches auszuschliessen, gleichwohl aber der regionalen und interregionalen Diskurse und deren Domänenspezifität gerecht zu werden.

Schliesslich bot ELIZA GREZICKI (Wuppertal) Einblick in ihre Forschungstätigkeit zum Wandel des „Studium Generale“ in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945. Sie versteht die mannigfache curriculare Ausrichtung und Konzeption dieses Studienbestandteiles als Krisenbewältigungsstrategie der Universitäten. Nun verfolgt sie das Ziel, Absichten, Ideen und Vorstellungen hinter dem Konzept des „Studium Generale“ begriffsgeschichtlich auszuleuchten und das Zusammenwirken von politischer, normativer und institutioneller Ebene aufzuzeigen. Zudem beabsichtigt Grezicki anhand vier historischer Zäsuren die politischen und normativen Einflüsse auf das Curriculum diskursanalytisch herauszuarbeiten und mögliche Typologien abzuleiten.

Zum Abschluss hob REGINA WECKER (Basel) in ihrem kritischen Tagungsrückblick zunächst die anregende Diskussionskultur von Referierenden und Diskutanten hervor und unterstrich die Offenheit, mit welcher die Rückmeldungen und Hinweise auf Lücken und Leerstellen aufgenommen worden seien. Wenngleich sich die Referate hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausrichtung im bildungshistorischen Arbeitsfeld vielfältig verteilten, verwies Wecker auf einige gemeinsame Linien: Die Referierenden hätten sich (1) deutlich auf die Ausschreibung eingelassen und sich zu methodischen und theoretischen Zusammenhängen im Kontext der eigenen Forschungstätigkeit geäussert. So stelle sich die akteurzentrierte Vorgehensweise als zentraler Ansatz heraus, auch wenn sich Unterschiede im jeweiligen Akteursverständnis aufgetan hätten. Ebenso dominant vertreten seien die inzwischen tradierten Ansätze des Diskurses und der Diskursanalyse. Hierbei gelte es, die Fragen nach dem historischen Kontext nicht in den Hintergrund zu drängen und genau zu diskutieren. Schliesslich dürften die Referierenden, bei aller Konzentration auf konzeptionelle Fragen, ihre inhaltlichen Ausführungen zugunsten der Klarheit erweitern. Es bestehe (2) die Tendenz, sich in hermeneutischer Manier nicht zu früh festzulegen und eine Offenheit der Analysen so lange als nötig beizubehalten. Dies könne dem Forschungsgegenstand durchaus zuträglich sein, aber auch als Schlupfloch für noch bestehende Unklarheiten verstanden werden. Letztlich habe sich (3) die Frage nach Wandel und Konstanz vermehrt als zu untersuchendes Element herauskristallisiert, was für historische Diskussionen sehr tragfähig sei. Lohnenswert sei hierbei, etwaige Machtaspekte aufzuzeigen.

Die Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung war für die Doktorierenden ein guter Anlass, um in überschaubarem Rahmen ihre historiographische Forschungsarbeit in angenehmer Atmosphäre zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Dass dabei der Schwerpunkt wiederum auf der gegenseitigen Bezugnahme von Fragestellung, methodischen und theoretischen Prämissen und Fragen rund um die Quellenlage und -Auswahl fusste, ermöglichte einen zielgerichteten und konstruktiven Austausch, der mitunter in der Pause fortgeführt wurde. Engagiert haben sich auch die Diskutantinnen und Diskutanten eingebracht und mit ihren hilfreichen und kritischen Anmerkungen zum Gelingen der Werkstatt beigetragen. Dem einen oder anderen Teilnehmenden dürfte diese Werkstatt in seiner Forschungsarbeit sicher einen Schritt nach vorne erlaubt haben.

Konferenzübersicht:

Nathalie Dahn (Lausanne): Historiographische Herausforderungen einer akteurzentrierten Bildungsgeschichte.

Mirjam Staub (Zürich): Kinderhorte für Schulkinder – eine Institution im Schnittfeld der Sozial- und Bildungspolitik des 19. Jahrhunderts.

Karin Büchel (Zürich): Die Bildungspolitische Entwicklung der dualen Berufsbildung im Kanton Luzern im Kontext der Bildungsexpansion der Hochschulen und Gymnasien (1955-1975).

Lise van der Eyk (Freiburg i.Br.): Schul- und Unterrichtsfreiheit im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft: Der politische Diskurs in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden im 19. und 20. Jahrhundert.

Thomas Ruoss (Zürich): Schule, Statistik und die Repräsentationen des Fremden. Zur Verwaltung von Herkunft in der Schulgeschichte am Beispiel der Stadt Zürich (1893-1920).

Barbara Caluori (Luxemburg): Kultureller Kontext und Methodenpräferenzen. Hochburgen und Grenzgebiete der pädagogischen Methoden nach 1800.

Helene Mühlestein (Zürich): Das Schulgeschichtsbuch zwischen Text und Kontext.

Johanna Bethge (Heidelberg): Democratizing Textbooks. Schulbucharbeit(en) nach 1945 in der amerikanischen Besatzungszone, Westberlin und der jungen Bundesrepublik.

Nadine Pietzko (Zürich): Die Schulbuchlandschaft um 1800.

Michael Annegarn (Braunschweig): Medienwandel in der Bildung – Die Einführung des Lehrfilms in den zeitgenössischen pädagogischen und gesellschaftlichen Debatten im Deutschen Reich 1919-1939.

Sarina Hoff (Mainz): Von „Prügelpädagogen“ und „notwendiger Züchtigung“. Einstellungen zu körperlichen Strafen in Schulen ca. 1870-1974.

Eliza Grezicki (Wuppertal): Der Wandel des „Studium Generale“ in der Universitätsgeschichte der BRD nach 1945. Für jede Krise ein neues „Studium Generale“.

Regina Wecker (Basel): Kritischer Tagesrückblick.

Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Historische Bildungsforschung; Workshop
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 04. 05. 2015
Korrekturdatum: 04. 05. 2015